Der Morosini-Brunnen in Irakleio (© Österreichische Nationalbibliothek)

KRETA (13.08.-15.08.1901)

Das Ehepaar Kretschmer verließ Wien am 5.08. mit dem Ziel, Triest, den Hafen Österreich-Ungarns, zu erreichen. Zwei Tage später reiste das Paar mit dem Dampfer „Helios“ entlang der adriatischen Küste und durch die Ionischen Inseln zum ersten Reiseziel, der Hafenstadt Chania. Aus seinen Tagebüchern geht hervor, dass Kretschmer vom „orientalischen“ Straßenleben und der multiethnischen Bevölkerung überrascht war.

Mit dem Dampfer erreichte das Paar Rethymno (14.08.) und schließlich Irakleio (15.08.). Dort besuchten sie das archäologische Museum, dessen Direktor, Iosif Chatzidakis (1848-1936), ihnen „eine neugefundene Inschrift in unbekannter Sprache zeigte“. Von Kreta reiste das Paar mit Zwischenstationen in den Häfen von Piräus (16.08.) und Volos (17.08.) nach Thessaloniki.

Der Morosini-Brunnen in Irakleio (© Österreichische Nationalbibliothek)

THESSALONIKI (18.08.-26.08.1901)

Der Aufenthalt in Thessaloniki hatte das Zusammentreffen und die Kooperation mit dem Byzantinisten Petros N. Papageorgiou (1859-1914) zum Ziel. Als ehemaliger Direktor des Gymnasiums von Mytilini half er Kretschmer dabei, die nächsten Schritte der Reise zu planen. Die Zusammenarbeit der zwei Männer wird für fast alle Tage des dortigen Aufenthaltes in Kretschmers Tagebüchern notiert. Das Paar besuchte mit Papageorgiou das Kloster der Mevlevi-Derwische, die Burg der Stadt sowie die Vororte Kalamaria und Kapoutzis [heute: Pylaia].

Mit dem Dampfer „Sofia“ reisten Paul und Leona Kretschmer aus Thessaloniki nach Kavala (27.08.), und über Dedeagatsch (Alexandroupolis) und die Inseln Samothraki, Imbros (Gökçeada) und Tenedos (Bozcaada) erreichten sie am nächsten Tag den Hafen von Mytilini.

Das Kloster der Mevlevi-Derwische in Thessaloniki (© Österreichische Nationalbibliothek)
Wortschatz aus Agiasos (Lesbos) 1901 (OeNB: Cod. Ser. 53996, Stueck 8, 22)

LESBOS (28.08.-24.10.1901)

In Lesbos verblieb Kretschmer mit seiner Ehegattin fast zwei Monate. Dort fand der größte Teil der Feldforschungen für die Dokumentation der verschiedenen lesbischen Mundarten statt, wie die vielfältigen Angaben zu Konjugationen, grammatikalischen Phänomenen und Wörtern in Kretschmers Tagebüchern verraten.

Wortschatz aus Agiasos (Lesbos) 1901 (OeNB: Cod. Ser. 53996, Stueck 8, 22)

NETZWERK

Für die Dokumentation der lesbischen Mundarten führte das Ehepaar Kretschmer vier Ausflüge innerhalb der Insel durch. Die erste Reise fand nach Agiasos (04.-07.09.) statt, die zweite nach Plomari (19.-21.08.), die dritte nach Molivos (27.08.-03.10.) und die vierte nach Eresos (12.10.-16.10.).

In allen Gebieten strebte Kretschmer danach, die vor Ort Lehrenden (Lehrer, Schuldirektoren, Gymnasiallehrer) zu treffen. Diese Gelehrten spielten eine doppelte Rolle in seiner Feldforschung, da sie ihm einerseits Feldforschungsmaterial (Märchen, Volkslieder, Sprichwörter) übergaben, das sie in früheren Jahren selbst angesammelt hatten, und andererseits über konkrete sprachwissenschaftliche Phänomene des lokalen Dialekts berichteten.

Ohne die Zusammenarbeit mit dem Netzwerk der lesbischen Lehrenden vor Ort wäre Kretschmers Bestreben nach der Erforschung der linguistischen, volkskundlichen und demographischen Realität der Insel praktisch unmöglich gewesen.

Michail K. Stefanidis (1868-1957), Schlüsselperson für Kretschmers Feldforschungen (© Österreichische Nationalbibliothek)
Ausgrabungen des Österreichischen Archäologischen Instituts in Ephesos (© Österreichische Nationalbibliothek)

KLEINASIEN (24.10.-30.10.1901)

Der nächste Aufenthalt nach Lesbos war Smyrna (Izmir). Dort besichtigten Paul und Leona Kretschmer die Stadt und den Basar sowie mit dem Schiff die Ortschaft Kordelio (Karşıyaka) (29.10.).

Der Aufenthalt in Kleinasien zielte grundsätzlich auf den Besuch der Ausgrabungen des Österreichischen Archäologischen Instituts in Ephesos (27.-28.10.) ab. Dort wurde das Paar vom Archäologen Rudolf Heberdey (1864-1936) herumgeführt. Am 30.10. stieg das Paar in den Dampfer „Byzantion“ und kam am nächsten Tag in Chios an.

Nach einem kurzen Aufenthalt fuhr der Dampfer nach Piräus (01.11.) weiter.

Ausgrabungen des Österreichischen Archäologischen Instituts in Ephesos (© Österreichische Nationalbibliothek)

ATHEN (01.11.-13.11.1901)

Der Aufenthalt in Athen war sehr produktiv für die linguistische Arbeit von Kretschmer. Dort traf er den Sprachwissenschaftler Georgios N. Chatzidakis (1848-1941), einen Professor an der Universität Athen. Seine Studenten fungierten als Informanten für Kretschmer, die der Wiener Professor zu ihren Mundarten befragte. Das Ehepaar Kretschmer besuchte in diesem Zeitraum auch den Lykabettus sowie die archäologischen Orte der Stadt (Akropolis, Agora).

Reisetagebuch Paul Kretschmer 1901 (OeNB: Cod. Ser. 53996, Stueck 12, 12v)
Reisetagebuch Paul Kretschmer 1901 (OeNB: Cod. Ser. 53996, Stueck 12, 18v)

ITALIEN (15.11.-5.12.1901)

Die Frage nach griechischen Elementen in italienischen Dialekten definierte das nächste Ziel der Expedition. Das Paar fuhr von Athen zur Hafenstadt Patras und von dort mit dem Schiff „Scilla“ nach Brindisi. Kretschmer suchte in den Mundarten von Tarent nach griechischen Elementen, die er allerdings nicht lokalisieren konnte. Seine Feldforschung für die Dokumentation der neugriechischen Sprache endete praktisch hier.

Reisetagebuch Paul Kretschmer 1901 (OeNB: Cod. Ser. 53996, Stueck 12, 18v)

RÜCKKEHR

Die nächsten Stationen der Reise waren viel mehr von privaten Momenten sowie dem Besuch von archäologischen Sehenswürdigkeiten, Kirchen, Dörfern und Städten Italiens geprägt, wie auch das Fotomaterial zeigt. Von Tarent fuhr das Paar am 16.11. nach Salerno, und über Amalfi (18.-19.11.) erreichten sie die Hafenstadt Sorrent, wo sie mit dem Dampfer zur Insel Capri (20.11.) abfuhren.

Am nächsten Tag besichtigten sie unter anderem die berühmte archäologische Stätte von Pompeji, und nach einem kurzen Aufenthalt in Neapel kamen sie nach Rom (24.-29.11.). Dort besuchten sie unter anderem das Forum Romanum, den Vatikan und das Pantheon. Nach einem Aufenthalt in Florenz (29.11.-2.12.), der vor allem dem Besuch des Palazzo Pitti und der Uffizien gewidmet war, erreichte das Paar Venedig (2.-5.12.), die letzte Station der Reise. Mit dem Dampfer fuhren sie nach Triest ab, und am 6.12. traf das Ehepaar Kretschmer wieder in Wien ein.

Leona Kretschmer in Venedig (© Österreichische Nationalbibliothek)